Alle Reportagebilder: ©Sabine Braun
WIEN
ALTE MEISTER, JUNGE GEISTER
Mit dem Museumsquartier ging es vor rund 15 Jahren los. Seitdem schärfen originelle Hotels, kreative Shops oder Leuchtturm-Projekte wie der Campus der Wirtschaftsuniversität das Profil der österreichischen Hauptstadt
Normalerweise habe ich vielleicht zwei, drei Lieblingsplätze in einer Stadt, aber in Wien? Deutlich mehr. Das „Phil“ in der Gumpendorfer Straße etwa. So stelle ich mir die Weiterentwicklung des Wiener Kaffeehauses vor. Das „Phil“ kann sich nicht entscheiden, ob es Café, Lampenlädchen, Bücherhalde oder Plattenschrank sein will. Es dauert, bis man dieses wunderliche Retro-Paradies einordnen kann. Da hilft es, dass sein lässiges Personal es ebenfalls nicht eilig hat. Vermutlich eine Reminiszenz an die Kaffeehäuser der Stadt, in denen die stolzen Kellner den Bestellpöbel auch nur widerwillig zur Kenntnis nehmen. Herrlich. Wien halt. Lebendig und ökologisch ganz weit vorn: Der „Gabarage Upcycling Design-Store“, in dem Künstler aus gebrauchten Materialien Neues designen. Ein Lieblingsplatz wie auch die Buchhandlung „Babette´s“, in dem man Kaffee, einen Teller Suppe oder auch exotische Gewürze erwerben kann. Erst im Juni 2021 meldeten die Agenturen: Wien ist nicht mehr lebenswerteste Stadt der Welt. Beim internationalen „Economist“-Ranking verabschiedete sich die Stadt pandemiebedingt aus den Top Ten, nachdem man jahrelang immer vorn lag.
In Wien interessiert das keinen Menschen. Warum auch? Der Zauber Wiens erschließt sich doch jedem, der mit offenen Augen durch die Stadt flaniert. (Übrigens die einzig adäquate Fortbewegungsart in Wien!) Allein diese pompöse Pracht auf den Straßen: Paläste, prächtige Alleen, überwältigende Parks. Wien ist Sisi in der Jetzt-Zeit, mit Kaffeehäusern, Denkmälern und einem glamourösen Opernball, der zahllose Yellow-Press-Magazine am Leben hält.
Es gibt ein Zitat des Kabarettisten Karl Farkas: „Die Wiener blicken vertrauensvoll in die Vergangenheit!“ Wer das gemächliche Ufer-Treiben an der blauen Donau erlebt, die gut gelaunten Selfie-Versuche im Stadtpark vor der goldenen Statue von Walzerkönig Johann Strauss oder vor der Wiener Hofburg, der erkennt: Treffender kann man Wiener Lebensart, diese süße Melange aus Rokoko, Sängerknaben-Kult und Mehlspeisen kaum beschreiben. Doch wo versteckt sich da das moderne, urbane, gläsern-stählerne Wien, von dem man immer wieder mal hört? Zum Beispiel an der Wirtschaftsuniversität. Dieses neue Leuchtturm-Projekt ist Heimat für fast 25.000 Studenten. Sechs renommierte Architekturbüros haben hier knapp 500 Millionen Euro verbaut. Mein Favorit: das „Learning Center“ aus dem Büro von Zaha Hadid.
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Kunterbunte Inspirationsquelle: Die Bar Phil serviert Bücher, Lampen und Kaffee

Victoria Kadernoschka von Gabarage Upcycling Design

Bunte Kultobjekte im Museumsquartier: die „Enzis“
Ein Grandhotel für Backpacker Ebenfalls einer meiner Lieblingsorte, weil er dem traditionellen Wien einen modernen Twist verpasst: das Grand Ferdinand Vienna! Das Hotel am Wiener Ring wirkt auf den ersten Blick wie eines der klassischen Wiener Premium-Adressen. Doch Hotelier Florian Weitzer – der auch für das hippe Hotel Daniel verantwortlich ist – verbaute hier charmante Sollbruchstellen. Es gibt einen offenen Pool neben dem Dachterrassen-Restaurant oder einen preiswerten Schlafsaal mit Einzelbetten, der auch Backpackern Grand-Hotel-Vibes verspricht. Smarter kann man sein zukünftiges Publikum nicht anfüttern.
Wichtig für das junge Wien ist natürlich auch das Museumsquartier, eines der zehn größten Kulturareale der Welt. Es exisitiert seit 2001 und ist Heimat diverser Museen, Galerien und schicker Restaurants.
Beispielhaft dafür das Café-Restaurant Corbaci der französischen Architekten Anne Lacaton und Jean Philippe Vassal, über das die Neue Zürcher Zeitung schrieb: „Der vielleicht schönste Ort des gesamten Quartiers.“ Und wenn das Museumsquartier der populäre Treffpunkt der jungen Szene in Wien ist, dann sind die „Enzis“ ihr Wappensymbol.
Es handelt sich dabei um bunte, kombinierbare Multifunktionsmöbel, die 2003 erstmals outdoor überall im Museumsquartier abgestellt wurden. Ihr Erfolg war so überwältigend, dass man die bunten Sitzgelegenheiten als Design gewordene Visitenkarte Wiens auch ins Ausland exportierte, nach Barcelona, Madrid oder Moskau zum Beispiel. Da denkt man jetzt vermutlich, es müsse irgendwo in Österreich ein buntes, ganz und gar verrücktes Wien geben. Das Schöne daran: Stimmt ja auch. Lebenswerteste Stadt der Welt 2022? Fahren Sie mal hin und entscheiden Sie selbst.
Harald Braun